„Die Dinge auf Reisen“. 8. Tagung der Kommission Tourismusforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde

„Die Dinge auf Reisen“. 8. Tagung der Kommission Tourismusforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde

Organisatoren
Kommission Tourismusforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.04.2008 - 12.04.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Helmut Groschwitz, Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft / Volkskunde, Universität Regensburg

Mit dem Tagungsthema „Dinge auf Reisen“ hat die dgv-Kommission Tourismusforschung auf ihrer 8. Tagung das erneute Interesse an der materiellen Kultur aufgegriffen, das momentan im Fach zu beobachten ist. Nach Jahren einer vielfach motivierten Skepsis gegenüber den Dingen als Forschungsgegenstand und der fast ausschließlichen Betonung kultureller Praxen und Zuschreibungen, bekommen Dinge und kulturelle Objektivationen für die volkskundliche Kulturwissenschaft eine neue Relevanz. Der Blick auf die Materialität der Lebenswelt wird unter neuen Vorzeichen als erkenntnistheoretisches Analyseinstrument für die Forschung nutzbar gemacht. Auch im Tourismus spielen Dinge eine entscheidende Rolle: Reisebedarf, Transportmittel, Gebäude und Gebrauchsgegenstände vor Ort, Souvenirs und Reiseandenken sind Teil eines komplexen Systems, dessen Bedeutungsebenen gerade durch qualitativ-empirische Analysen zugänglich gemacht werden können. Über die Gegenstände hin-aus interessieren deren Produktion, Distribution, Aneignung, Ordnung und Handhabung, ihre Bedeutung als Verbindungsglieder zwischen dem Daheim und der Fremde, sowie die symbolischen Aspekte, die Produktion und Veränderungen der Bedeutungen, die diese begleiten. Auf der Tagung wurde der Begriff der „Dinge“ weit gefasst und reicht, zusammengefasst als „materielle Kultur“, von Souvenirs über Objekte der Reise-Infrastruktur und Ausrüstungs-gegenstände bis hin zu imaginierten und symbolischen Dingen.

DIETER KRAMER (Frankfurt) betrachtete die Koppelung des Tourismus als Prosperitätsphänomen mit materiellem Konsum. Er fragt danach, wie sich Räume des Exzesses (den Tourismus immer darstellt) schaffen und gleichzeitig unverträgliche Praktiken vermeiden lassen. Imaginierten Dingen ging CHRISTIANE CANTAUW (Münster) nach. Der Blick auf die Frage nach den Dingen, die man auf eine Reise mitnehmen würde, zeigt jenseits des tatsächlichen Kofferinhaltes die Wertigkeit von Reiseutensilien bzw. jenen Dingen, die Heimat in der Fremde repräsentieren. Die mit dieser Frage verbundene Selbstinszenierung dient auch als Ausdruck von Distinktion, wie sich im Vergleich zeigt.

ANTONIO PEDREGAL (Alicante) analysierte die wechselhafte Geschichte der bekannten Stier-Silhouette vom Werbeträger für Osborne bis zum national belegten und variierten Symbol. Bei der Wechselwirkung verschiedener Inszenierungen spielte in einer bestimmten Phase der Tourismus eine Rolle, verlor diese aber auch wieder. ORVAR LÖFGREN (Lund) behandelte die Ethnographie des Wartens, die sich aus dem Reisen und neuen Verkehrsmitteln ergebende Dingwelt und die damit verbundenen Rituale und Kulturtechniken, die gefunden werden mussten und wurden. Der Rückgriff auf die historische Genese, insbesondere der damit verbundenen neuen Emotionalität, erlaubt dabei, die Selbst-verständlichkeiten der Gegenwart zu hinterfragen. Das Konzept der „Nicht-Orte“ lehnt Löfgren ab, da an jedem Ort etwas passiert, die Idee von Nicht-Orten beruhe lediglich auf schlechter Ethnographie.

BURKHART LAUTERBACH (München) setzte sich mit frühen Moscheebauten in Paris und London auseinander und ging der Frage nach, wie mit diesen „historical artefacts“ als Produkten kulturellen Transfers zwischen Einbindung und Exotisierung touristisch umgegangen wird. BURKHARD PÖTTLER (Graz) untersuchte Souvenirs als Teil der privaten Inszenierung des „Lebensmuseums“ (Köstlin), sowie deren Veränderungen. Über die Erinnerungsfunktion hinaus können Souvenirs auch in „profanisierter“ Form zu alltäglichen Gebrauchsgegenstände werden. Er sucht daher nach den speziellen „Dingbiographien“. Über die Erinnerungsfunktion hinaus lassen sich Dinge auch als Teil der Strategien einer Inbesitznahme des Reiseortes und der Konstruktion der Reise verstehen.

MARGARETE MEGGLE-FREUND (München) stellte das Ausstellungsprojekt „Viva Espana“ vor, bei dem sich die unterschiedlichen Zugänge und Konstruktionen des Pilger- und Reiselandes Spanien in jeweils spezifischen und vielschichtigen Dingwelten widerspiegeln. Die Konstruktion von Region über Nahrungsmittel zeichnete SONJA BÖDER (Münster) am Beispiel Westfalens nach, ein fast prototypischer historischer Rückblick, der ähnlich in anderen Regionen zu beobachten ist. Einer Ablehnung ländlicher Speisen und Getränke im 18. Jahrhundert folgt seit dem 19. Jahrhundert eine Aufwertung des Regionalen bis hin zur touristischen Inszenierung für regionale Identität und lokalem Selbstverständnis, das dann auch von Ortsansässigen in einer Schaufunktion gegenüber Gästen in den Alltag integriert wird.

In einer eigenen Magistranten-Sektion stellte MARTIN JONAS (Wien) drei Fallstudien um die Vielfach(de-)codierbarkeit eines regional belegten Kleidungsstückes, der Lederhose vor. ANJA FRÜH (Berlin) lenkte den Blick auf die Produzenten spezieller, modischer Berlin-Souvenirs; der ausschließlich lokale und gegenwartsbezogene Blick versperrte dabei die Einordnung in einen übergeordneten Kontext. CONNY EIBERWEISERS (Wien) Mikrostudie zu Hoteleinrichtungen zeigte Möglichkeiten aber auch Grenzen einer rein Ding-immanenten Deutung.

Dass der Gebrauch der Tafel beim Vortrag alles andere als obsolet ist, machte MICHAEL ZINGANEL (Graz) bei seinem Vortrag deutlich. Er rekonstruierte mit feinsinnigem Humor die Entstehung typischer touristischer Hausgrößen in Tirol und die jeweils dahinter stehenden Rahmenbedingungen, insbesondere die jeweils neu zu berücksichtigenden Bedürfnislagen und die damit verbundenen Kontextualisierungen sozialer Nähe und Enge.

Die Rolle des Fortbewegungsmittels behandelten CORD PAGENSTECHER (Berlin), der über das Medium der persönlichen Photographie die Bedeutung des Autos auf der Reise und die Inszenierung des Fahrzeuges als personalisiertes Ding und „Familienmitglied“ zeigte, sowie MARTINA KLEINERT (Göttingen), die über den Umgang mit dem Segler das Phänomen Weltumsegler zwischen Reise und Lebensstil zu greifen suchte. Deutlich wird hier die Gefahr der Übernahme der Eigenperspektive und die Notwendigkeit der Analyse des Umgangs mit dem Ding als Distinktionsverhalten. Die Weitergabe von Ausrüstungsgegenständen am Ende der Reise untersuchte anschließend KUNDRI BÖHMER-BAUER (München). Tauschrituale am Ende von Trekkingreisen zeigen sich polyvalent zwischen dem Bedürfnis einer Annäherung und dem Ausdruck kultureller Hegemonialvorstellungen.

In der Zusammenschau betonte KLARA LÖFFLER (Wien) die Bedeutung von Transfer und Transformation im Tourismus und dem vielschichtigen Zugang zu den Dingwelten. Die Mate-rielle Kultur ist ein essentieller Teil im medialen System des Tourismus. Reisen ist auch zu begreifen als differenzierte Konsumkultur. Dabei korrespondieren die touristischen Bilder und die Dinge auf Reisen, geben Bedienungsanleitungen und Ordnungen, transportieren Bedeutungen und verorten das Spannungsverhältnis von Eigenem und Fremden. Die Perspektive auf die Dinge eröffnet den analytischen Blick auf symbolische Praxen, Routinen und Inszenierungen im Tourismus mit und über Materialität. Materielle Kultur kann als erkenntnistheoretischer Schlüssel eingesetzt werden, um Alltag und Reisen zusammen zu denken und analytisch zu fassen. Dennoch bedarf es hier stets genauer Definitionen und eines quellen-kritischen ethnographischen Arbeitens, das sich nicht im Anekdotischen verliert.

Chancen und Schwächen des kulturwissenschaftlichen Blickes auf die „Dinge auf Reisen“ kamen in der abschließenden Diskussion zur Sprache. Die in der Münchner Tagung versuchte Perspektivenverschiebung auf die Materialität eröffnet neue Themenfelder und analytische Zugänge, trägt aber immer noch die Gefahr einer allzu positivistischen Sicht in sich; es bedarf des verstärkten Augenmerks auf Theorie und Methodik, um nicht im rein Deskriptiven zu verharren. Materielle Kultur und Tourismus zusammenzubinden erfordert begriffliche Schärfung und Theoriebildungsprozesse, um so Tourismusforschung für die Alltagsanalyse gewinnbringend einzusetzen. In diesem Sinne wird sich auch die 9. Kommissionstagung 2010 in Wien verstärkt mit theoretisch-methodologischen Fragen beschäftigen.

Kurzübersicht:

Johannes Moser/Daniella Seidl (München): Begrüßung und Einführung.

Dieter Kramer (Wien): „Prosperitätstourismus und das letzte Hemd, das keine Taschen hat“. Über materielle Ansprüche und die immaterielle Bedeutung des heutigen Tourismus.
Christiane Cantauw (Münster): Götz Alsmann auf Weltreise. Die Dingwelt in Reiseimagi-nationen.
Antonio Miguel Nogues Pedregal (Elche/Alicante): Bourdieu on Holiday: an analysis of ‘tourist’ object consumption in a tourism environment.
Orvar Löfgren (Lund): „Small things that matter. On the intense materiality of tourism and travel.“
Burkhart Lauterbach (München): „Fremde Dinge.“ Moscheen in westeuropäischen Metro-polen als touristische Sehenswürdigkeiten.
Burkhard Pöttler (Graz): Der Urlaub im Wohnzimmer: Dinge als symbolische Repräsentation von Reisen.
Margarete Meggle-Freund (Karlsruhe): Deutsche Spanienreisen – ausgestellt.
Sonja Böder (Münster): Westfälische Kulinarik. Zwischen Reiseberichten und touristischer Vermarktung.

Magistrantensektion
Martin Jonas (Wien): Die Lederhose auf Reisen – Differenztheoretische Überlegungen.
Anja Früh (Berlin): Urbane Wahrzeichen? Zur Materialisierung von Lokalität in Berlin nach 1989 – eine Fallanalyse emblematischer Souvenirs.
Conny Eiberweiser (Wien): Das Hotelbett.

Michael Zinganel (Graz/Wien): Frühstückspension und Eckbank, eine materielle und ma-terialistische Kultur der sozialen Enge.
Cord Pagenstecher (Berlin): „Pixi geht wie ein Sofa über die Prachtstraße.“ Das Auto und seine Wahrnehmung im Tourismus des Wirtschaftswunders.
Martina Kleinert (Göttingen): Im Eigenheim um die Welt – Der Umgang von Weltumseglern mit ihren Yachten.
Kundri Böhmer-Bauer (München): Dinge und ihr Weg auf und nach Trekkingreisen.

Klara Löffler (Wien): Zusammenfassung und Abschlussdiskussion.